Die WM und der Frauensport

Raja Aderdor aus Doha und "Goal Click"-Gründer Matthew Barrett gewähren Eindrücke in den Frauensport in Katar

Frauen in Katar schwören sich auf ein Fußballspiel ein.
Raja Aberdor und Matthew Barrett berichten u.a. vom Frauensport in Katar (Foto: privat).
Gesellschaft
Sonntag, 11.12.2022 / 10:00 Uhr

Von Yannik Cischinsky und Moritz Studer

Wenn Raja Aderdor von ihren Erlebnissen bei der Fußball-Weltmeisterschaft in Katar spricht, strahlt sie über ihr ganzes Gesicht. Während sie erzählt, leuchten ihre Augen. An ihrem Handgelenk trägt sie noch das rosa Bändchen, das sie im Ahmed bin Ali Stadium für das Gruppenspiel zwischen den USA und Wales erhalten hat. Erst eine Stunde vor Anpfiff bekam Raja ihr Ticket für die Begegnung, so sagt sie, und schon rannte sie zum Stadion. Raja ist in Marokko geboren und seit ihrem sechsten Lebensjahr in Katar aufgewachsen. Als Einheimische erzählt sie im Rahmen des GOALS Programms unter anderem auf der Plattform „Goal Click“ ihre Geschichte und blickt im Interview mit WERDER.DE auf Entwicklung des Frauensports im WM-Gastgeberland.

„Goal Click“ bietet verschiedenen Köpfen und ihren unerzählten Geschichten eine Öffentlichkeit. Seit 2014 erzählen hier Menschen von Orten auf der ganzen Welt von ihrer Beziehung zum Fußballsport, „von Bürgerkriegsüberlebenden in Sierra Leone bis zu den Hochschulsport-Helden aus Japan“, wie es auf der Website selbst heißt. „Wir finden, dass es auf der Welt viele Menschen gibt, deren Geschichten nicht erzählt werden“, sagt Matthew Barrett, einer der Gründer im Gespräch mit WERDER.DE. „Manchmal finden wir diese Menschen über unser Netzwerk, manchmal kommen sie aber auch auf uns zu. Wir geben ihnen dann das Gehör, ihre Sicht zu erzählen.“

Das Prinzip ist dabei so simpel wie überzeugend. „Goal Click“ lässt die Menschen sprechen, durch analoge Fotos, die die Protagonist:innen selbst aufgenommen haben, und in ihren eigenen Worten. Gemeinsam mit dem UNHCR sind so dutzende Geschichten von Geflüchteten entstanden, aus Syrien, Jordanien und dem gesamten afrikanischen Kontinent. 2018 und 2019 erzählten Menschen ihre bewegten Geschichten während der Fußballweltmeisterschaft der Obdachlosen. In Zusammenarbeit mit adidas entstand beispielsweise eine Serie aus sechs Fußballtrainerinnen, um Frauen im Fußball zu fördern und zu ermutigen, Führungsverantwortung zu übernehmen.

Rund um die Weltmeisterschaft ist „Goal Click“ in Katar, einem Land, von dessen Menschen die Weltöffentlichkeit trotz medialer Omnipräsenz in diesen Wochen nur sehr wenig mitbekommt. Von einer „Fassadengesellschaft“, hinter die man kaum blicken könne, spricht zum Beispiel Julia Friedrichs in einem Interview auf WERDER.DE, die selbst für die ZDF-Dokumentation „Geheimsache Katar“ vor Ort war.

Wolkenkratzer? Gab es vor 20 Jahren nicht!

Raja Aderdor kam 2004 nach Katar. Sie erinnert sich an ein kleines, ruhiges Land. Im Gespräch beschreibt sie, wie sie in Doha, der Hauptstadt Katars, aufwuchs; damals, als sie klein war und es noch keine Wolkenkratzer gab. „Vieles war anders, vieles hat sich seitdem verändert“, sagt sie. Die Vergabe der Fußball-Weltmeisterschaft im Jahr 2010 war ein Meilenstein für den Wüstenstaat, unabhängig davon, unter welchen vielfach kritisierten Umständen die FIFA-Entscheidung zustande kam. In diesen Wochen schaut die ganze Welt auf die Arabische Halbinsel am Persischen Golf.

In Europa ist die Kritik groß, dass das Turnier in Katar ausgetragen wird. Die vielen toten Arbeiter:innen, auch auf den WM-Baustellen, der Umgang mit Gastarbeiter:innen, Frauen und Homosexuellen, aber auch die im Zusammenhang mit Korruption stehende Vergabe haben einen Riss zwischen vielen europäischen Fans und dem Weltverband FIFA hinterlassen. Aber kann ein Fußballturnier, das nach wie vor größte Sportereignis der Welt, ein Land selbst und seine Menschen nachhaltig verändern?

Unsere Protagonistin Raja absolvierte ein Masterstudium an der Hamad Bin Khalifa University (HBKU) in „Women, Society and Development“. Ende Oktober schloss sie den Studiengang ab. In gewisser Weise sieht sie sich als Teil einer Frauen-Sportrevolution in Katar. Raja selbst spielt am liebsten Basketball – erst mit dem Universitätsteam, aber auch noch heute im Team der „Qatar Foundation“. In unserem einstündigen Gespräch spricht sie von einem Land mit vielen unterschiedlichen Kulturen, in denen jede:r seinen Glauben praktizieren könne. Sie wirkt fortschrittlich, offen, weltgewandt, tolerant. Gerade der Vorwurf, das islamisch geprägte Katar grenze aus, war einer der Haupt-Kritikpunkte im Vorfeld des Turniers. Versprechen des Weltverbandes, dass jede:r willkommen sei, sind beispielsweise in den Augen von Christian Rudolph„nichts wert“, wie der LGBTQ+-Beauftragte des Deutschen Fußball Bundes (DFB) im Interview mit WERDER.DE formulierte, weil die Erlaubnis, Regenbogenflaggen ins Stadion zu bringen, nur mangelhaft umgesetzt werde.

Sport für Frauen oft im privaten Raum

Im Gespräch mit Raja und Matthew wird viel darüber diskutiert, ob eine Weltmeisterschaft einen nachhaltigen Einfluss auf die Gegebenheiten vor Ort haben kann, insbesondere in Katar. „Es stimmt nicht, dass wir Frauen nicht rausgehen und an der Gesellschaft teilhaben können“, schildert Raja. „Vor der Weltmeisterschaft war der Fußball in den Vereinen nur für Männer, deswegen haben die meisten meiner Freunde Plätze in ihren privaten Häusern und Villen aufgebaut.“ Gleiches galt für Basketball, der Sportart Nummer eins für Raja und ihre Freundinnen.

Mittlerweile seien vor allem die lokalen Fußballvereine dazu verpflichtet worden, Plätze für Frauen zu eröffnen. „Natürlich ist es so, dass wir aufgrund unserer Religion das Kopftuch vor Männern tragen“, sagt Raja. „Es gibt aber auch Spiele, bei denen nur Frauen zuschauen.“ Dann werde oft kein Kopftuch getragen, führt die Tochter eines NGO-Mitarbeiters aus, deren Profil auf Instagram Bilder von ihr von überall auf der Welt zeigt: Philippinen, New York, Indien, Disneyland. Aber auch: Fotos vom Frauen-Fußballtraining in Katar, Torhüterinnen, die ihre Fäuste ballen.

Warum die katarische Frauenfußball-Nationalmannschaft aktuell keine Spiele mehr bestreitet, können weder Raja noch Matthew Barrett abschließend beantworten. „Das letzte Spiel, das die Mannschaft zusammen bestritten hat war 2020, das letzte offizielle internationale Spiel fand 2017 statt“, sagt Matthew, der in London lebt und während der WM in Doha ist. „Auf der Breitensport- und Vereinseben gibt es in Katar weiterhin Trainings und Spielbetriebe – die Beteiligung wächst.“ Sicher ist nur: Es brauchte damals unbedingt ein Nationalteam der Frauen, sonst hätte das Land sich nicht bewerben dürfen.

"Es ist ein kultureller Wandel"

„Ich sehe, dass sich die Situation der Frauen im Sportsektor deutlich verändert hat und dass Frauen in Führungspositionen in den Sportmedien und im Management aufgestiegen sind. Es war ein faszinierender kultureller Wandel. Es ist ein kultureller Wandel, der über den Sport hinausgeht“, schreibt Raja in ihrer GOALS-Story und diese Haltung transportiert die 25-Jährige auch im Interview authentisch.

Und dennoch: Vor, während und nach dem Gespräch mit Raja und Matthew haben wir dieses überaus positive Bild ihrer Geschichte, das sie zeichnet, kritisch hinterfragt. Auch, dass beispielsweise „Qatar Airways“ zu den ehemaligen Partnern (im Rahmen einer Mini-Serie rund um den FIFA-Arabien-Pokal 2021) der Plattform gehörte und die „Qatar Foundation“ das GOALS Programm unterstützt. „Ich kann euch sagen, dass nicht eine Geschichte verändert wurde“, blickt Matthew auf die Arbeit der letzten Monate zurück. Seit acht Jahren widmet sich der Oxford-Absolvent ganz „Goal Click“. Die Zusammenarbeit mit Sponsoren gehört dabei ganz selbstverständlich dazu, unterstreicht der Engländer. Ganz transparent nennt die Website deshalb auch unter anderem adidas, hummel, die FIFA, die Premier League, Common Goal oder das UN-Flüchtlingshilfswerk. Wichtig ist ihm: „Wir haben die komplette Freiheit bei unseren Veröffentlichungen.“

Unsere Eindrücke von Raja und Matthew zeichnen ein sehr authentisches Bild auf „Goal Click“. „Natürlich ist in Katar, wie in jedem anderen Land auch, noch Luft für Verbesserungen. Es sollte aber trotzdem jeder verstehen, dass es hier nicht alles so ist, wie im eigenen Land“, sagt Matthew Barrett. Das Bild, das Raja Aderdor vermittelt, ist das einer jungen, offeneren Generation in Katar. Ob diese Sicht repräsentativ ist, lässt sich unmöglich abschließend bewerten. Nichtsdestoweniger ist es das Bild einer starken, engagierten Frau, den Fußball und Sport liebt.

Die gesamte Reihe "GOALS: Qatar" gibt es hier, für alle die, die sich selbst einen Eindruck machen wollen.

 

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