Die Sache mit der inneren Flamme

2019 ein nationaler Titel, 2020 ein ultimativer Entschluss – mit 22 hört Stabhochspringerin Stina Seidler auf

Nach vielen Jahren mit tollen Höhenflügen beendet Stina Seidler 2020 ihre Karriere
Leichtathletik
Dienstag, 17.11.2020 / 06:57 Uhr

Olaf Dorow / Weser Kurier 16.11.2020 (Seite 22 / Sport)

Dann kam Corona. Wer von sich erzählt; davon, wie es in der letzten Zeit so war bei ihm, der kommt um den Satz selten herum. Eine lupenreine Corona-Geschichte ist das hier nicht, jedoch muss in diesem Fall immer noch die etwas abgeschwächte Version benutzt werden: Dann kam auch noch Corona dazu – das wäre wohl der passende Satz zur Geschichte der Stabhochspringerin Stina Seidler, einer der besten des Landes.

Sie war, mit 21, die Deutsche Meisterin ihrer Altersgruppe. Jetzt, mit 22, hat sie ihre Karriere beendet. „Irgendwie ist die innere Flamme erloschen“ sagt eine, in deren Leben sich in den letzten Jahren fast alles um Stabhochsprung gedreht hat. Neudeutsch: 24/7. So erzählt sie es. Ein erster Entschluss aufzuhören, liegt weit zurück. Jede Leistungssportlerin kennt das. Leistungssport gibt viel, fordert viel. Kann so beglückend sein und so frustrierend. Vor Sinnfragen sind selbst Olympiasieger nicht verschont, und wer wird schon Olympiasieger? Die Motivation muss immer ganz oben sein, sonst wird das alles nichts. Bei der Werder-Athletin war das so: Motivation ganz oben. Zehnmal Training die Woche. Sie war von Bremen nach Potsdam gezogen und hatte dort am Olympiastützpunkt beim Bundestrainer Stefan Ritter trainiert. Ihr Studium, International Business Administration, an der Berliner Hochschule für Wirtschaft und Recht, hatte sie gestreckt. Studentenleben, Freitzeitaktivitäten, Urlaubsplanung, Heimfahrten nach Bremen? Na ja, 24/7 Sport.

Das Gute: Der Spaß am Training, gemeinsam mit den Trainingsgefährten, der Spaß an dieser ewigen Suche nach dem perfekten Sprung, der war da. Spaß allein ist im Leistungssport auf Dauer zu wenig. Es müssen auch Erfolgserlebnisse her. Stina Seidler erzählt, dass der Knackpunkt die Technikeinheiten waren. Mit kurzem Anlauf waren die Versuche solide, mit langem Anlauf nicht. Sie sei nicht an den Punkt gekommen zu zeigen, was sie drauf hat. Stabhochsprung ist technisch eine sensible und komplexe Angelegenheit, alles muss passen. Es passte nicht im intensiven Training im Frühjahr 2019. Stina Seidler sagte sich irgendwann: Na gut, diese Saison noch, dann ist Schluss. In dieser Saison wurde sie dann Ende Juni in Wetzlar deutsche U 23-Meisterin. 4,20 Meter, dicht dran an der Norm für internationale Titelkämpfe. Knoten geplatzt, Wow. Weiter geht‘s. Der Aufhör-Entschluss verschwand, um es mal so zu sagen: in einem entlegenen Ablagefach des Gedanken-Wirrwarrs. Doch er blieb, auch sozusagen: auf Wiedervorlage. An dieser Stelle kam die Pandemie ins Spiel – und spielte eine wenig aufbauende Rolle.

Der Lockdown im März schloss sich an einen Winter an, in dem es im Training so lala gelaufen sei, sagt die Athletin. Wegen der vielen Klausuren an der Uni hatte sie auf Winter-Wettkämpfe verzichtet. Es sollte jetzt wieder der Sport im Mittelpunkt stehen, als der Olympiastützpunkt für Wochen geschlossen wurde. Nix Training. Sie fuhr nach Hause, zu den Eltern nach Bremen. Als sie im Mai nach Potsdam zurückkehrte, kehrte auch dieses vermaledeite Technik-Problem zurück. Kurzer Anlauf: okay. Langer Anlauf: nicht okay. „Und ich war wieder an dem Punkt, an dem ich ein Jahr vorher war“, sagt Stina Seidler. Warum kann ich nicht anknüpfen an den Meistersprung? Wofür betreibe ich diesen ganzen Aufwand? Wo ist der Mehrwert? Solche Fragen habe sie sich gestellt. Also doch aufhören?

Viel gesprochen habe sie, mit dem Trainer, mit den Freunden, mit den Eltern. Sie ist kein Plappermaul. Aber auch keine, die das nur mit sich selbst ausmacht und sich in sich selbst zurückzieht. Seidler ist dann im August noch mal für zwei Wochen nach Bremen gefahren. Bei ambitionierten Sportlern ist das zumeist so: Wenn sie zwei Wochen nix machen, dann vermissen sie etwas. „Ich habe aber nichts vermisst in den zwei Wochen“, sagt Stina Seidler. Das gab den Ausschlag. Der Spaß war noch da, aber es war eben auch nicht mehr als die Freude daran, mit Freunden auf dem Trainingsplatz zu sein und zu üben. Der Leistungsgedanke trug nicht mehr. Keine innere Flamme. Es ist wirklich eine Crux mit diesem Leistungssport-Ding. Mit seiner Ambivalenz. Fluch und Segen, Geben und Nehmen. In der Leichtathletik wird wie in vielen anderen Sportarten alles ganz gerecht vermessen nach Zentimetern und Hundertstelsekunden, und doch kann sich das ungerecht anfühlen. Viel Aufwand gleich viel Ertrag, das taugt nicht als Rechnung. Um sein Limit herausfinden oder erreichen zu können, wird bisweilen zu viel Gegenleistung verlangt. Stina Seidler wäre bestimmt noch mal höher gesprungen als 4,20 Meter, wenn sie ihre Karriere nicht mit 22 beendet und weiter, immer weiter trainiert hätte. Aber zu welchem Preis? Studium noch mehr vernachlässigen? Berufsperspektive einengen?

Sie ist jetzt im siebten Semester. Nur noch ein paar Klausuren und die Bachelorarbeit, dann hätte sie ihren Abschluss. Sie will den Master dranhängen, Schwerpunkt Finanzwirtschaft. Eine verlässliche solide wirtschaftliche Basis wäre nur selten etwas, was der 24/7-Sport im Angebot hat, in der Leichtathletik ist das jedenfalls so. Und nun? Fehlt ihr nicht doch etwas? Ja, die Freunde beim Training, die Gemeinschaft dort, das vermisse sie schon. Aber sie habe gemerkt, wie viel Zeit sie nun hat. Es ist auch eine Art Ballast weg. Ihr Studienfach ist nicht mehr Nummer zwei, sie könne sich da jetzt richtig intensiv mit beschäftigen. Stina Seidler sagt: „Ich habe meine Entscheidung nicht bereut. Nicht einmal.“

 

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