"Unkompliziert Hilfe bekommen"

Sonja Schenk von notruf Bremen und Dr. Hubertus Hess-Grunewald im Interview

Dr. Hubertus Hess-Grunewald im Interview zum Thema Awareness
Dr. Hubertus Hess-Grunewald im Interview zum Thema Awareness (Foto: WERDER.DE).
Interview
Freitag, 03.12.2021 / 16:29 Uhr

Betroffene von Belästigung oder Gewalt sollten immer und überall unkomplizierte Hilfsangebote annehmen können. Das ist das erklärte Ziel von 'notruf Bremen', einer Beratungsstelle für Betroffene von sexueller Gewalt. Zusammen mit dem 'Arbeitskreis Awareness' des SV Werder Bremen, erarbeiteten die Verantwortlichen ein Konzept aus, um auch im Stadion ein niedrigschwelliges Hilfsangebot zu ermöglichen. 

WERDER.DE hat mit Sonja Schenk von notruf Bremen und Dr. Hubertus Hess-Grunewald über Awareness und die Kampagne "Kennst du MIKA?" gesprochen.

WERDER.DE: Moin, Hubertus. Mit dem heutigen Heimspiel gegen Aue greift im wohninvest WESERSTADION ein Awareness-Konzept. Kannst du erklären, was dahintersteckt?

Dr. Hubertus Hess-Grunewald: „Es wurde eine Struktur geschaffen, die es Menschen, die sich hier im Stadion bedrängt fühlen, erfahrungsgemäß sind das vornehmlich Frauen, die Möglichkeit bietet, sich aus dieser Bedrängnis zu lösen, Ansprechpartner:innen und auch Hilfe zu finden. Das bedurfte natürlich einer gewissen organisatorischen und konzeptionellen Vorbereitung. Die Beratungstelle für Betroffene von sexualisierter Gewalt „notruf Bremen“ hat das Konzept „Kennst du MIKA?“ für ganz Bremen entwickelt. Wir freuen uns sehr, dass wir es in enger Zusammenarbeit auch für die Strukturen in unserem Stadion anpassen konnten.“

WERDER.DE: Wie sieht der Weg konkret aus, wenn sich jemand bedrängt oder belästigt fühlt?

Dr. Hubertus Hess-Grunewald: „Die Schlüsselfrage lautet ‚Kennst du MIKA?‘ Mit dieser Frage kann sich eine betroffene Person an Ordner:innen wenden. Die sind alle soweit instruiert, dass wenn sie damit konfrontiert werden, wahrnehmen, dass dort jemand in einer bedrängten Situation ist oder vielleicht sogar Opfer eines Übergriffes geworden ist. Dieser Ordner wird seinen Abschnittssleiter informieren und über den Abschnittssleiter wird dann ein Awarenessteam informiert, die einfache Hilfe anbieten. Es geht nicht darum zu problematisieren, es geht nur darum, Hilfe anzubieten. Die Hilfe kann darin bestehen ein Taxi zu rufen, aber auch gemeinsam die Polizei zu informieren oder einen geschützten Raum aufzusuchen, in dem man zur Ruhe kommt und man die Situation reflektieren kann. Diese Vielfalt möchten wir anbieten, die Voraussetzungen dafür wurden mit dem Konzept vom notruf Bremen geschaffen und in unserem Stadion etabliert.“

WERDER.DE: Was ist besonders wichtig im Umgang mit betroffenen Personen, Frau Schenk (notruf Bremen)?

Sonja Schenk: „Es ist wichtig, Betroffene mit ihren individuellen Reaktionen auf das Erlebte zu respektieren und ernst zu nehmen. Da die Bedürfnisse im Umgang mit erlebten Grenzüberschreitungen sehr divers sind, ist es wichtig, Betroffenen zuzuhören und Anliegen und Wünsche zu respektieren, auch wenn diese von den eigenen Vorstellungen abweichen. Eine zurückhaltende Haltung trägt dazu bei, das Selbstwirksamkeitserleben und die Handlungsautonomie von Betroffenen zu stärken, die durch einen Übergriff verletzt wurden.“

WERDER.DE: Derartige Konzepte gibt es bereits in anderen Städten und sind keine alleinige Idee von Werder Bremen. Wie ist ‚Kennst du MIKA?‘ entstanden? Und wie hat es den Weg zum SV Werder Bremen gefunden?

Sonja Schenk: „Das ist richtig, auch in Bremen gab es bereits ein Vorgängerprojekt, das aber aus juristischen Gründen eingestellt werden musste. Dem notruf war es wichtig, dass weiterhin ein niedrigschwelliges Hilfeangebot gegen diskriminierende und sexualisierte Gewalt in Bremen zur Verfügung steht. Deshalb haben wir „Kennst du MIKA?“ ins Leben gerufen, das auch wieder in möglichst vielen Bars, Kneipen und Event-Locations angewendet werden soll.“

Dr. Hubertus Hess-Grunewald: „Aus unserer aktiven Fanszene haben sich insbesondere weibliche Fans zusammengetan, dieses Problem für sich erkannt und angefangen, nach einer Lösung zu suchen. In diesem Prozess wurde es in den ‚Arbeitskreis Awareness‘ getragen, der auf uns zugekommen ist. Wir waren sehr angetan von den Gedanken und Bemühungen und haben sofort zugesagt, dass wir unseren Beitrag leisten, vor allem aber einen kompetenten Partner an unserer Seite brauchen, der uns bei der Umsetzung und der Realisierung dieses Projektes ganz wesentlich helfen kann und der der eigentliche Träger dieses Projektes ist. Mit dem ‚notruf Bremen‘ haben wir diesen gefunden.“

Sonja Schenk: „In den Gesprächen wurde schnell deutlich, dass unser Konzept viele Vorstellungen des Arbeitskreises und von Werder erfüllte. Wünsche und Ideen wurden ausgetauscht und es war klar, dass im Stadion andere Rahmenbedingungen erfüllt sind als in einer Kneipe. Die Anpassung des Konzepts erarbeitete der AK Awareness, die Schulungen der Projektbeteiligten, zum Beispiel der ehrenamtlichen Helfer:innen, erfolgte durch den notruf. Das Projekt wurde in Kooperation mit der Bremische Zentralstelle für die Verwirklichung der Gleichberechtigung der Frau umgesetzt und stieß dabei auf große Resonanz und Befürwortung der Bremer Politik. Der notruf hat das Projekt aus Spenden und Fördermitteln der Stadt Bremen finanziert.“

WERDER.DE: Was zeichnet denn ‚Kennst Du MIKA?‘ aus?

Sonja Schenk: „Es stand im Fokus, dass alle Menschen, die sich bedrängt, belästig oder bedroht fühlen, das Codewort bei Bedarf benutzen können und unkompliziert Hilfe bekommen. Das Projekt ist zudem nicht geschlechtsspezifisch. Aus diesem Grund wurde der internationale und geschlechtsneutrale Codename MIKA ausgewählt.“

WERDER.DE: Wie groß ist denn der Bedarf für ein Awareness-Konzept in Bremen überhaupt?

Sonja Schenk: „Da sich sexualisierte Gewalt und Diskriminierung durch alle gesellschaftlichen Schichten zieht, ist der Bedarf eines niederschwelligen Hilfsangebots groß. Sexualisierte und diskriminierende Gewalt sind in allen erdenklichen Kontexten erlebbar und finden unabhängig von Bildung und sozialem Status statt. Awareness-Konzepte helfen zum einen, das Bewusstsein für die unterschiedlichen Gewaltformen zu erhöhen – wirken also präventiv - und halten zum anderen diese problematische Thematik im gesellschaftlichen Diskurs.“

WERDER.DE: Was sind denn die Aufgabenbereiche eurer Beratungsstelle ‚notruf-Psychologische Beratung bei sexueller Gewalt‘?

Sonja Schenk: „Die Aufgaben des notruf gliedern sich in vier Bereiche. Zum einen ist das die Beratung von Betroffenen und deren Freunden sowie Angehörigen bei sexualisierter Gewalt. In den notruf können Menschen jeden Geschlechts ab 14 Jahren kommen. Wir beraten überwiegend in persönlichen Gesprächen, es sind aber auch telefonische Beratungen, Beratungen per Mail sowie Onlineberatung möglich. Darüber hinaus bieten wir Fortbildungen, Supervisionen und Vorträge sowie Seminare zu Fragestellungen im Zusammenhang mit sexualisierter Gewalt für Fachkräfte, zum Beispiel für Polizeistudent:innen, Lehrkräfte, andere Beratungsstellen sowie für Ärzt:innen und Pflegekräfte im Zusammenhang mit der Anonymen Spurensicherung an.“

WERDER.DE: ‚Kennst du MIKA?‘ hat ja auch einen präventiven Charakter.

Sonja Schenk: „Das ist richtig. Die Entwicklung von Projekten ist ein dritter Bereich unserer Arbeit. Weitere notruf-Projekte sind die K.O.Mittel-Kampagne und die Anonyme Spurensicherung nach Sexualstraftat in Kooperation mit der Gesundheit Nord. Darüber hinaus geht es um Kooperationen, Vernetzung mit weiteren Institutionen und Öffentlichkeitsarbeit. Es geht darum, die Situation für Betroffene stetig zu verbessern, Versorgungslücken zu identifizieren und möglichst zu schließen sowie die Thematik der sexualisierten Gewalt im gesellschaftlichen Diskurs zu halten. Kooperationspartner sind dabei zum Beispiel die Polizei Bremen, vor allem das Kommissariat für Sexualdelikte K32, die Staatsanwaltschaft Bremen, die ZGF und weitere Beratungsstellen/Einrichtungen wie der Täter-Opfer-Ausgleich oder die Frauenhäuser.“

Eine Gesellschaft [zu] schaffen, in der alle Menschen sich in ihrer Diversität wohlfühlen können.
Dr. Hubertus Hess-Grunewald

WERDER.DE: Kommen wir noch einmal zurück zu ‚Kennst du MIKA?‘. Das Projekt ist seit einigen Tagen öffentlich. Welches Feedback hat dich bisher erreicht, Hubertus?

Dr. Hubertus Hess-Grunewald: „Das bisherige Feedback kam mehrheitlich aus der Zivilgesellschaft und war zumeist ‚Toll, dass das jetzt auch bei euch im Stadion möglich ist.‘ Aber dabei soll es nicht bleiben. Wir haben mit dem Stadion einen markanten und wichtigen Ort, der viel wahrgenommen wird. Wir hoffen aber, dass sich dieses Konzept, wie vom notruf gedacht, in der ganzen Stadt ausbreitet, in anderen Bereichen wie insbesondere in der Gastronomie.“

WERDER.DE: Um was geht es beim ‚Arbeitskreis Awareness‘ noch?

Dr. Hubertus Hess-Grunewald: „Der Arbeitskreis besteht unter anderem aus der ‚AG Courage‘, die sich aus dem alten ‚Arbeitskreis Antidiskriminierung‘ herausgebildet hat. Hinzu kommt ein Netzwerk aus Frauen, die ebenfalls aus unserer aktiven Fanszene stammen. Viele Themen wie Fremdenfeindlichkeit oder Homophobie wurden aufgegriffen. Der Arbeitskreis hat das Bewusstsein dafür geschärft, dass wir bestimmte Tendenzen im Fußball, gerade in den Stadien und unter den Fans, nicht mehr haben möchten. Weitere Themen folgen, es gibt ja beispielsweise Auswüchse von Behindertenfeindlichkeit, die in Zukunft angegangen werden, um einen Beitrag für eine Gesellschaft zu schaffen, in der alle Menschen sich in ihrer Diversität wohlfühlen können. Das muss insbesondere auch bei einem Stadionbesuch, hier bei uns im wohninvest WESERSTADION, gelten.“

WERDER.DE: Awareness ist ja ein sehr weites Feld. Was könnten denn weitere, mittelfristige Schritte bei Werder sein, die über den Spieltagsbesuch hinausgehen?

Dr. Hubertus Hess-Grunewald: „Stichwort: Behindertenfeindlichkeit oder auch Queer-Feindlichkeit. Im Hinblick auf unsere Bemühungen für eine diverse und bunte Gesellschaft müssen wir auch dort Diskriminierung und damit Situationen, in denen sich Menschen im Stadion bedrängt fühlen, wahrnehmen und den Betroffenen Unterstützung und Hilfe gewähren. Ich glaube, Awareness wird sich schrittweise entwickeln, das ist ein Prozess. Wenn sich ‚Kennst du MIKA?‘ verselbstständigt hat; werden wir weitere Schritte solidarisch miteinander gehen können.“

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